23 novembre 2015

Vorgestern fand im Théâtre de de La Verrière, Lille, bei vollem Haus eine Veranstaltung mit dem Ziel statt, auf die Vorgänge vom 13. November in Paris ein Licht zu werfen. Savoirs et Clinique und Citéphilo hatten dazu eingeladen. Geneviève Morel hielt den einleitenden Vortrag und stellte dann Dr. Catherine Adins, Leiterin der UHSA des Universitäts-Krankenhauses von Lille, und Professor Gilles Kepel, Paris, Politologe, Spezialist für Islam-Forschung und arabische Welt der Gegenwart vor.

Geneviève erinnerte daran, dass die Psychoanalyse an das Subjekt nicht mit den Vorurteilen der Pathologie herangeht und daher vielleicht besser dafür gewappnet ist, die Ursachenforschung auch so schwerer Verbrechen voran zu treiben. Sie zog dann aber doch Maurice Dides „leidenschaftliche Idealisten“ als pathologische Figuren heran, die den Attentätern entsprechen könnten. Dide schrieb in dem Werk, das er ihnen 1913 widmete: „Die Idealisten der Gerechtigkeit gehen so weit, die ganze Menschheit zu foltern und sie zu zerstören, um es der Justiz zu erlauben, ohne Widerspruch zu herrschen, und wäre es in einer Wüste.“ („Les idéalistes de la justice sont capables de torturer l’humanité entière et de la détruire pour permettre à la justice de régner sans conteste, fut-ce dans un désert.“)

Geneviève erklärte danach Lacans Begriffe des passage à l’acte und des acting-out, zwei Vorgänge, die für Analytiker und Psychiater oft rätselhaft bleiben. Beispiele für den passage à l’acte entlieh sie der deutschen Geschichte: Es handelt sich um Angela Merkels Ausruf „Wir schaffen das“ während des Beginns der Flüchtlingskrise. Geneviève vergaß auch nicht auf das, womit Wolfgang Schäuble diesen Akt zerstören wollte. Er verglich die Masseneinwanderung mit einer Lawine, die von einem ungeschickten Schifahrer losgetreten wurde.

Catherine Adins gab daraufhin Beispiele für die Auslösung krimineller Handlungen und beschrieb ihre Begegnungen mit gefangenen Terroristen.

Gilles Kepel verwarf die unter Linken beliebte Erklärung monströser Terroranschläge mit der Lebensmisere und der sozialen Ungerechtigkeit, die von Immigranten-Familien aus dem Maghreb abstammende junge Leute vor allem in den französischen Vorstädten erleiden. Viel ernster nahm er ihre zerrütteten Familien und die weit verbreitete Abwesenheit ihrer Väter, die manchmal zum Inzest zwischen den Müttern mit ihren ältesten Söhnen führen. Catherine Adins bestätigte die Häufigkeit dieser familiären Situation bei vielen Delinquenten. Gilles Kepel sprach dann von der vernichtenden Wirkung engstirniger Koran-Auslegungen auf die jungen Leute, die nach Syrien gehen.

Die für mich überzeugendste Ursachen-Konstruktion der Massaker vom 13. November kamen mit Kepels Bemerkung zu der Interaktion zwischen den Machthabern der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und den französischen und belgischen Mördern zur Sprache. Nach dem Abzug der Amerikaner aus dem Irak bauten diese sunnitischen Offiziere und Beamte ihr Machtgebilde auf den Ruinen des von Saddam Hussein grausam geführten irakischen Staates mit seiner einzigen Partei auf. Die nun zum Zug gekommene Elite hatte für die ausgewanderten französischen Terror-Dilettanten nur Verachtung. Die zukünftigen Mordgesellen wünschten aber nichts heißer, als die Anerkennung dieser Männer zu gewinnen, die in zwei Jahren ihr Territorium bis nach Syrien ausbreiten konnten. Der ferne Islamische Staat wirkte als ein El Dorado der erlaubten Gewalt. Die Anerkennung durch seine Hierarchie versprach den wohlwollenden Blick eines für unsere Auffassung fremden Ich-Ideals, das den früheren Klein-Verbrechern, Drogenhändlern und zukünftigen Massenmördern immer gefehlt hatte. Um diesen Blick zu erhaschen, waren sie zu dem bereit, was sie am 13. November in Paris getan haben.

Über den Verfasser

Franz Kaltenbeck ist Psychoanalytiker in Paris und Lille, Mitgründer von ALEPH (Association pour l’étude de la psychanalyse et de son histoire) und Herausgeber von Savoirs et clinique. Revue de psychanalyse.

Zu seinen Veröffentlichungen gehören: Reinhard Priessnitz. Der stille Rebell. Aufsätze zu seinem Werk (Droschl, Graz 2006); Sigmund Freud. Immer noch Unbehagen in der Kultur? (Mitherausgeber, diaphanes, Zürich 2009); Lesen mit Lacan. Aufsätze zur Psychoanalyse (Parodos, Berlin 2013, siehe auch hier, 12.12.2014); Michael Turnheim: Jenseits der Trauer (Mitherausgeber, Zürich, diaphanes 2013).

 

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