3 janvier 2016
Die Mönchsarbeit Musils hätte also etwas wie eine mittelalterliche Handschrift oder Inkunabel ergeben. (2) Beim Schreiben zog er sich psychosomatische Leiden zu, sein Buch fiel bei der Kritik durch und verkaufte sich nicht, obwohl er mit ihm einen in der Literatur allein dastehenden Diskurs über das unmögliche Verhältnis zwischen den Geschlechtern schuf und große Einsichten in weibliches Denken und Fühlen zu dichterischer Sprache brachte. Hartmut Böhme erkennt in der ersten der beiden Novellen die „Präludien“ der Geschwisterliebe von Ulrich und Agathe im großen unvollendeten Roman des Autors.3 Müh und Leid beim Schreiben dieses fünf Jahre nach Die Verwirrungen des Zöglings Törleß erschienenen Werkes haben sich also gelohnt, sie waren der symptomatische Preis, den Musil für sein Begehren zu bezahlen hatte.
Mein Thema im Folgenden ist die eine dieser beiden Novellen, „Die Vollendung der Liebe“.
Die Vollendung der Liebe
Die äußere Handlung
Die Novelle hat eine dürftige äußere Handlung.4 Fast alles, was uns der Autor zu lesen gibt, geschieht im Erleben, Fühlen und Denken der Protagonistin, Claudine, in die sich der Erzähler hinein zu versetzen vermag, als sei er zu seiner eigenen Heldin geworden.5
Claudine muss in eine weit entfernte und eingeschneite Provinzstadt fahren, um dort ihre in einem Pensionat untergebrachte Tochter zu besuchen. Ihr Mann, mit dem sie eine große, gegenseitige Liebe verbindet, kann sie auf dieser Reise nicht begleiten. In dem abgelegenen Ort lässt sich Claudine von einem ihr gleichgültigen Mann verführen. Soweit der äußere Handlungsablauf, den „Die Vollendung der Liebe“ mit so mancher konventionellen Novelle teilt. Will man versuchen, Musils Novelle gerecht zu werden, muss man versuchen, was nicht leicht fällt: die inneren Ereignisse der Protagonistin zusammenfassend skandieren.
Der Dritte
Am Abend vor der Abreise sitzen Claudine und ihr Mann beim Tee. Der Erzähler besteht auf der körperlichen Verbundenheit des Paares; dieses Band spannt sich „wie eine Strebe aus härtestem Metall“ (8) zwischen ihnen; Claudine fühlt „ihre Herzen wie zwei Schwärme kleiner Schmetterlinge ineinanderflattern“.
Doch diese Zweisamkeit der beiden Menschen, die einander „wie durch Tausende spiegelnde Flächen ansehen“, wird von ihrem Gespräch unterbrochen, das einen Dritten ins Spiel bringt. Sie unterhalten sich beim Tee über einen gewissen G., den Kranken aus einem Buch, das Claudine gerade liest. Er verführt Kinder und junge Frauen, ist aber nur ein „zufälliger Mensch“. Doch hinter ihm dämmert Claudine „von irgend etwas Bestimmtem“ (11). Wie Demeter in der Veronika-Novelle hält der Perverse hier den Platz einer Allegorie. Der „Dritte“ wird auch der „Unbekannte“ genannt, aber er ist nur einer von vielen Dritten (12). Er konfrontiert das Paar mit dessen zweisamem „Alleinsein“ (13). Das Geheimnis des Alleinseins dieses Dritten steht so dem Geheimnis des gemeinsamen Alleinseins des Mannes und der Frau gegenüber. Nach der Einführung des Dritten in die Erzählung gesteht Claudine ihrem Mann, dass am vorigen Abend schon etwas zwischen ihnen war, als er sie küsste, es war ja „nichts“, nur „ein undeutlicher Schatten“ (15). Die Zweisamkeit wird also immer gestört. Die Blicke, welche die beiden austauschen, gleichen zwei Körpern auf einem gespannten Seil, das schwankt. Sie können ohne einander nicht leben, sondern nur „wie ein kunstvoll in sich gestütztes System“.
Nach dieser Einleitung in die Arithmetik des Liebeslebens, wo es die Dualität ohne den Dritten nicht gibt, zeigt der Erzähler, dass das „kunstvolle System“ nicht hält.
Vergangenheit, Vorzukunft und das preziöse Objekt
Im Leben Claudines gab es immer Dritte, also sie und zwei Männer. Sie war schon früher einmal verheiratet, aber ihre Tochter Lilli, die sie am Land besuchen wird, hatte sie in der Zeit ihrer ersten Ehe nicht mit ihrem Mann gezeugt, sondern mit einem Zahnarzt, den sie wegen rasender Schmerzen aufsuchte. Ihr Gewissen hatte gegen diese Untreue nichts einzuwenden. Der Dritte kam immer zufällig ins Spiel.
Als sie am nächsten Tag ihre Reise antritt, überfallen sie Erinnerungen an ihr vergangenes Leben, in dem sie „Handlungen von einer Stärke der Leidenschaft bis zur Demütigung“ erlitt. Doch nichts von all dem berührte sie mehr (18, 19), denn all ihre Leiden waren mit einem Mal „versunken“, als sie ihren Mann traf. Die Reise zu ihrem Kind lässt das Verdrängte wiederkehren. Das Gestern kommt ihr zum Bewusstsein, „als trüge sie heimlich etwas Kostbares und Zartes“ (22). Der Erzähler definiert die Vergangenheit mit der Grammatik der Vorzukunft, die auch in der Psychoanalyse gilt: „… und ihre Vergangenheit erschien ihr mit einmal wie ein unvollkommener Ausdruck von etwas, das erst geschehen musste“ (55). Dieses wertvolle Objekt ihres Gestern ist nicht nur an ihre Beziehung zu ihrem Mann geknüpft, sondern auch an ihre Erinnerungen. Sein „Glanz“ begleitet sie.
Der Gedanke, der nicht entstand. Ein unbetretener Pfad
Im Zug ist sie allein, und in ihrem Geist geht eine in ihrer Erinnerung immer verschlossene Tür auf (25). Sie überschreitet eine Grenze, ihr Weg führt an einem „sonderbaren Pfahl vorbei“, sie betritt „ein(en) nie betretene(n) Pfad“, der in die innere Fremde ihrer Vergangenheit führt: „und von einem nicht gewordenen Gedanken strahlt eine stille Lähmung aus“ (26). Ihre – bisher auf ihren geliebten Mann beschränkte – Treue lehnt sich gegen ihr „Sichzurückbiegen nach der Vergangenheit“ auf. Sie dachte manchmal, „es müsste noch eine andere, ferne Art des Lebens für sie bestimmt sein“. Die bloße „Form eines Gedankens“, ein „nicht wirklich gemeinter Gedanke“ ohne Inhalt „öffnet sich als dunkler Gang in ihren Träumen“ (28). Sie fühlte sich manchmal von „einem ungekannten Liebesleid bestimmt“.
Weit draußen, im Unkenntlichen, von den Dingen verlassen
Sie befindet sich „weit draussen“ und erschrickt, „im Unkenntlichen plötzlich noch ihre Seele zu spüren“ (29). Aber es geht nicht um Verlangen nach Liebe, sondern sie verspürt fast die Sehnsucht, „diese grosse Liebe, die sie besass, zu verlassen“ (29). Ihr Weg führt sie nicht „zum Geliebten hin, sondern fort und schutzlos in die weiche trockene Welkheit einer schmerzhaften Weite“ (ibid.). Ihre Liebe ist plötzlich nicht mehr etwas zwischen ihr und dem Geliebten, sie gehört auch der Welt an (sie hängt „in blassen Wurzeln unsicher an der Welt“).
Claudine erlebt eine ontische Trennung; das Seiende löst sich von ihr und ihrem Geliebten „in diesen von einer ungeheuren Sichtbarkeit durchschauerten Stunden“. Es ist, „als ob sich mit einmal die stummen folgsamen Dinge von ihnen losgemacht hätten“ (30). Es handelt sich nicht um Hegels „Nacht des Menschen“, sondern um die Nacht des Daseins, das der Erzähler beschreibt.
Nacht des Daseins
Claudine und ihr Geliebter verlieren die Dinge, die sie verbanden. Sie sind „wie Fremde, wie Unwirkliche, von ihrem Verhallen ergriffen6, voll Stücken eines Unbegreiflichen in sich, dem nichts antwortet, das von allen Gegenständen abgeschüttelt wurde und von dem ein zerbrochener Schein in die Welt fiel, der verworfen und ohne Zusammenhang da in einem Ding, dort in einem entschwindenden Gedanken aufleuchtet“ (30).
Ab dieser Daseinskatastrophe vermag Claudine „zu denken, dass sie einem anderen gehören könnte“. Aber es ist „nicht wie Untreue, sondern wie eine letzte Vermählung“ (ibid.). Diese findet „irgendwo“ statt, wo sie nicht waren, wo sie nur „wie eine von niemandem gehörte (…) Musik waren“. Ihre Liebe wird von einem Weh begleitet, das sie ihrem Mann antut. Dann vergeht dieses Weh. (31)
Sie schaut aus dem Zugfenster. Erlebt einen Verlust ihres Lebensgefühls, sie sieht wie die Dinge „bröckeln“ und „zerfallen“. Sie erkennt sich als Gefangene in ihrer Stadt, in ihrer Wohnung, auf einem winzigen Platz (ibid.).
Eine „sich grenzenlos aufrichtende Öde“ (34) erscheint ihr in einem „zufälligen Gedanken“. Ihr Gefühl findet dort keinen Halt, es ist wie ein Kletterer an einer Wand, wo sie sich selbst hört wie „ein kleines unverständliches Geräusch“. Sie hört „vergessene Geräusche“ an der „steinernen Stirn der Leere“ (34). Sie hat die Domäne der phallischen Funktion verlassen, „wo das Subjekt sich mit seinem lebendigen Sein (être de vivant) identifizieren kann“7.
Sturz „in die blinde Riesenhaftigkeit eines leeren Raumes“
Claudine steht „unter dem Druck des ungeheuer Fremden“ (35), also dort, wo das väterliche Gesetz des Anderen nicht mehr gilt. Sie empfindet mit „Entzücken“ das „Glück der Fremdheit in der Welt“ (35). Sie fühlt sich „an den Rand des Lebens gedrängt“, sie fühlt „den Augenblick vor dem Sturz in die blinde Riesenhaftigkeit eines leeren Raumes“ (ibid.).
Da sehnt sie sich phantasmatisch nach ihrem früheren, von fremden Menschen missbrauchten und ausgenützen Leben, als müsse ihr das Phantasma der Erniedrigung Halt geben, so wie ihr später die massive Gegenwärtigkeit des Fremden „Festigkeit“ (43) verspricht. Vor der draußen „lautlos tobenden Landschaft“ (36) hat sie „nichts als ihr Nichtssein“, identifiziert sich also mit diesem „Nichts“ als Objekt. Sie empfindet „Lust am Alleinsein mit fremden Erlebnissen“ (37) und findet von ihrer vergangenen Liebe zu ihrem Mann nur mehr die „wunderliche Vorstellung“ von „einem Zimmer mit lange geschlossenen Fenstern“. Ihre Gedanken wandern in den Schnee hinein, „ohne zurückzusehen, immer weiter und weiter, wie wenn man zu müd ist, um umzukehren und geht und geht“ (37).
Eine geheimnisvolle Vereinigung?
Am Ende der Zugfahrt tritt ein fremder Herr in Claudines Leben. Sie nehmen den gleichen Pferdeschlitten in die Stadt. Er ist ihr gleichgültig, und dennoch beginnt mit ihm etwas wirklich zu werden (38). „Gross, breit und in seinen Pelz gehüllt“, versperrt er ihren Gedanken den Weg (40). Und wie schon im Falle von G., dem Perversen, ist auch dieser Herr „ein Beliebiger, nur eine dunkle Breitheit von Fremdheit“, „nur ein alltäglicher Mensch(43). Doch genau die Tatsache, dass dieser Mann „ganz ungewiss bleibt“, bereitet ihr Lust. Er erklärt ihr, dass sie an diesem Ort eingeschneit werden. Plötzlich befindet sie sich in einer „ungewollten Wirklichkeit“9 (43). Dass sie dem Fremden freundlich antwortet, bereitet ihr „zerspaltenen Genuss“ (44).
Obwohl ihr Körper nur nach einem Sehnsucht hat (49), wartet sie, gespalten zwischen Liebe und Begehren, in der Nacht auf diesen Unbekannten (50). Nicht der Fremde lockt sie, sondern „ihre wilde preisgegebene Seligkeit, sie zu sein (…) aufgesprungen wie eine Wunde“. Da sucht sie „den Rausch einer geheimnisvollen Vereinigung“ (50) mit dem fernen Geliebten. Sie wird von „der unheimlichen Einsamkeit dieses sie suchenden Gleichklangs (zwischen ihr und dem Geliebten) wie von einer ungeheuren Verschlingung ergriffen“. Aber diese Verschlingung geschieht in einem anderen Raum, „weit über alles Wohnland der Seelen hinaus“ (51).
Unmögliche Vollendung
Das Phantasma gewinnt aufs Neue die Oberhand: sie glaubt sich wie in der Vergangenheit gefangen, zu demütigenden Diensten gezwungen. Die „schreckliche Wehrlosigkeit“ ihres Daseins kehrt aus ihrer Vergangenheit wieder. Sie erleidet eine von „der fürchterlichen Unwiderruflichkeit ihres Schicksals verlangte Entkräftung“ (52). Aber gerade dieser Zustand der Schwäche wird auch von etwas anderem mit verursacht. Von einem verwirrenden „mit zielloser Zärtlichkeit seine Vollendung suchende(n) Teil einer Liebe“. Dass es um den „Teil einer Liebe“ geht, der Vollendung sucht, zeigt das Fehlen des Ganzen der Liebe an. Die Vollendung kann nicht erreicht werden. Der Erzähler besteht dann auch auf einer wichtigen Unterscheidung: Für die Vollendung der Liebe gibt es „in der Sprache des Tages und des harten, aufrechten Ganges noch kein Wort“ (ibid.). Der Erzähler vergleicht Claudine an einer Stelle mit einer „schnuppernden Hündin“ (92).
Bei der „Sprache des Tages“ denkt man an Freuds „Sekundärvorgang“, beim „aufrechten Gang“ an seine Theorie, die „Aufrichtung des Menschen“ stehe am Beginn des verhängnisvollen Kulturprozesses mit seiner „Entwertung des Geruchsreizes“, an dessen Stelle die Gesichtsreize treten. Die Genitalien werden sichtbar, es komme zur „Kontinuität der Sexualerregung“ und der „Gründung der Familie“ etc.10
„Wir waren einander untreu, bevor wir einander kannten“
Claudine fühlt sich abwesend von sich selbst11 (53), als stünde sie „in Wirklichkeit immer noch bei jenem versunkenen Traumgefühl“ (ihrer Wehrlosigkeit). Sie will sich dem Geliebten wahren und dennoch kommt ihr ein „in stillem Halbsein leuchtender Gedanke“: „wir waren einander untreu, bevor wir einander kannten“, der von einem anderen Gedanken stammt: „wir liebten einander, bevor wir einander kannten“ (54). Ihre Liebe dehnt sich also weit über das Gegenwärtige hinaus – in die Untreue. Diese ist ein „ewiges Zwischenihnensein“. Immer gibt es mehr oder weniger als sie zwei.
Da fällt ihr wieder jener G. aus dem Gespräch vor ihrer Abreise ein (53). Untreu zu sein wird zu einer „geheimnisvolle(n) das Leben schliessende(n) Lust“ (ibid.).Wieder holt die Vergangenheit sie ein: „Vom nächsten Morgen ab lag eine eigentümliche Luft von Vergangenheit über allem“ (55). In einem Brief bittet sie ihren Mann, ihr zu sagen, was ihre Liebe sei und gibt ihm auch gleich ihre metaphorische Antwort: sie ist ein Turm, von dem sie nur ein Zittern „rings um seine schlanke Höhe“ fühlt (58).
Aber die Postverbindung zwischen der eingeschneiten Stadt und der Außenwelt ist abgeschnitten. Sie zerreißt ihren Brief (60). Es kommt ihr der Gedanke, dass sie, „kaum da sie allein war“, vielleicht wirklich wieder in die Vergangenheit zurücksinken könnte. Sie bemerkt die fremden Menschen um sich. Das Fremde, „mit dem ihr Leben nichts gemeinsam (hat)“, richtet sich vor ihr auf, wie ein „zottiges (…) Tier“ (63).
„Sonst bin ich irgendetwas“: Treubruch
Auch ihr Mann, wenngleich ein „unvergleichlicher Mensch“ (64), ist ihr als Objekt ihres Begehrens entfremdet. „Ein Unwägbares, vom Verstand nicht zu Fassendes (…) war von ihm geschwunden“ (ibid.). Der Erzähler sagt zu dieser Befremdung der Protagonistin: „und vielleicht erlebt man die grossen, bestimmenden Zusammenhänge nur in einer eigentümlich verkehrten Vernunft…“ (65). In einer „schlagschnellen Erhellung“ erscheint ihr ihr ganzes Leben von diesem unverstehbaren unaufhörlichen Treubruch beherrscht“ (66). Die Sicherheit, die ihr Leben trug, geht ihr verloren. Die Kulissen ihrer verschiedenen möglichen Leben gleiten auseinander. In einem „weissen, leeren, unruhigen Raum“ tauchen die Lehrer ihrer Tochter wie „dunkle, ungewisse Körper“ auf, mit denen sie sprechen muss (68).
Das Begehren des Fremden, des Ministerialrates aus dem Zug, wird nun zur sexuellen Realität. Ihr fällt das Wort „Sodomie“ ein. Unter „diesem Tier“ würde das „Unvorstellbare“ geschehen. Das ist die „Versuchung ihrer Liebe“, die sie noch einmal beschwört, indem sie sich als das Objekt des Begehrens ihres Mannes definiert: „ich bin nur etwas in dir, nur etwas durch dich, nur solange du mich festhältst sonst irgendetwas, Geliebter, so seltsam vereint“ (69). Dann begegnet sie ihrem Verführer, einem Menschen „von hässlicher Alltäglichkeit des Geistes“ (75), von dem doch Gewalt ausgeht (72). Er gebärdet sich als „Kenner der Frauenseele“ (80)! Und dennoch kann sie ihm nicht widerstehen, weil es etwas in ihr gibt, das sich nicht mit Handlungen ausdrücken lässt und das „unter dem Bereich der Worte (liegt)“ (71).
Der Ministerialrat versucht sie davon zu überzeugen, dass ihre Liebe zu ihrem Mann rein kontingent, nichts anderes als eine Gewohnheit sei. Worauf will er hinaus, wenn nicht auf die Zerstörung der Besonderheit ihrer Liebe. Im Laufe der Erzählung wiederholt Claudine ja ihre Behauptung, ihre Liebe beruhe darauf, dass sich ihr Mann von allen anderen Männern unterscheidet. Genau diese Singularität stellt der Ministerialrat in Frage. Und er hat Erfolg mit seinen Attacken gegen die Ausnahmestellung ihres Mannes. Warum? Weil Claudine, obwohl sie ihren Geliebten von allen anderen Männern unterscheidet, keine Ausnahme macht, die eine Allheit schaffen würde. Für sie gibt es nur den Einzigen und die Gewöhnlichen, aber beide Mengen sind disjunkt. Von Anfang der Erzählung an ist jeder „Dritte“ ein gewöhnlicher Mensch, aber nichts macht den gewöhnlichen Menschen zum Menschen schlechthin.
Nun ist aber ihr Mann als Objekt ihrer Liebe verblasst. Daher wird sie durch das Drängen des Ministerialrates destabilisiert. Sie fühlt, wie ihr Körper zersplittert: „Da war ihr mit einem Schlag, als ob tausend zu ihrem Körper aneinandergefügte Kristalle sich sträubten; ein umhergeworfenes, unruhiges, zersplittert dämmerndes Licht stieg in ihrem Körper empor …“ (73).
Ohne Gesetz
Sie will sich gegen die Anmaßung ihres Verführers auflehnen: „Sie wollte sich zurufen, wer er sei, aber das Gefühl blieb wie ein wesenloser Schein ohne Gesetz, eigentümlich schwebte es in ihr, als ob es nicht zu ihr gehörte“. Ihre Gefühle verselbständigen sich, verbinden sich nur zufällig mit der „täglichen Vernunft“ (74).
Claudine befindet sich also außerhalb des Gesetzes (hors la loi)12, das für sie nicht einmal ihr Mann repräsentiert, eine „sinnentleerte Weite“ umgibt sie (75). Sie fühlt den begehrenden Blick des Menschen als „etwas ganz Unpersönliches“, erleidet eine Depersonalisierung. Der Erzähler vergleicht ihre Situation gegenüber dem Menschen, der sie verführt, mit einem Punkt gegenüber einem anderen fremden Punkt, und diese Punkte sehen einander „fremd im Raum“ an13 (ibid.). Auch glaubt sie, die Liebe der Tiere verstehen zu können(76). In der Novelle „Die Versuchung der stillen Veronika“ kommen ebenso Tiere vor, an die der Erzähler appelliert, als wolle er das Tierreich beschwören, in welchem er, wie andere Autoren auch, jene Gewissheit der sexuellen Beziehung postuliert, die zwischen den Menschen fehlt.
Grenzenlos
Dieser Blick löst noch eine andere Unsicherheit bei Claudine aus. Während sie ihre Liebe zu ihrem Manne früher in der Erzählung schon in Frage stellte, weiß sie nun nicht mehr, ob in diesem Augenblick ihre Liebe zum „äussersten Wagnis wird oder verblasst“ (76). Ihre Sinne öffnen sich „wie neugierige Fenster“. Sie empfindet „eine unsagbare Sehnsucht nach jenem einzigen Menschen“, also nach ihrem Mann, der ebenso einsam ist wie sie (77). Die Welt wird für sie „ein unendliches Geräusch“ (79), sie kann sich nicht mehr begrenzen und spürt ein „Selbstverfliessen“, sie geht sich verloren (ibid.).
Der Ministerialrat sagt ihr, sie sei eine jener Frauen, „deren Schicksal es ist, von einem Sturm hingerissen zu werden“ (80). Sie fällt ein weiteres Mal in ihre Vergangenheit zurück. In dem „Faden des Geschehens“ zerspringt plötzlich ein Glied (81) und der „grosse, durch die Jahre geflochtene Gefühlszusammenhang ihres Daseins“ wird „kahl“, und fast „wertlos“ (ibid.).
Vergebliches Zusammenwachsenwollen
Sie will sich frei machen „und dem Geliebten zu Füssen stürzen“ (82). Aber etwas hält sie davon ab. Selbst das Stillwerden, das Nichts, die Leere helfen ihr nicht (83). Ihr Körper hemmt ihren Elan, der sie zu ihrem Geliebten bringen könnte, sie gerät in eine „unentrinnbare Treulosigkeit, die sie von dem Geliebten (trennt)“ (84). Erschüttert in ihren seelischen Werten und in tiefe Unsicherheit gestürzt, sucht sie in ihrem Verlangen nach dem Fremden Halt. Sie fühlt sich wie von einem Fremden mit Messern aufgebrochen und „niedergestreckt“. Sie kämpft für ihre „Treue um dieses Nichts“ ihres verwundeten Körpers. Der Erzähler spricht von einem „Schwankenden“, einem „gestaltlosen Überall“ (85). In Anspielung an den aristophanischen Mythos von den zerschnittenen Körpern der Kugelmenschen (auf den ich unten zurückkomme), wird sie „wie der Rand einer traumhaften Wunde“, der in einem „Zusammenwachsenwollen (…) vergeblich den anderen sucht“. Ihre vergangene Liebe ist eine „Sterbenssehnsucht“.
Verleugnung der Liebe
In Gegenwart des Ministerialrates denkt sie an ihren Geliebten, und als dieser sie fragt, ob sie ihren Mann noch liebe, verleugnet sie ihre Liebe (86). Doch ihre Lüge verschafft ihr einen „unbegreiflichen Reiz“. Ihr Geliebter erscheint ihr in der Lichtgestalt des Ideals, doch sie fällt in die Lüge zurück. Sie empfindet den Schmerz zu existieren: „dass sie lebte, tat ihr weh“ (87). Während sie in der Vergangenheit das Zerfallende, das „Unbeweisbare“, das „vom Verstand nicht zu Fassende des eigenen Lebens“ begriff, leidet sie jetzt an dem, was es an Vereinigung in diesem Leben gab (90). Ihre Liebe sei zwischen zwei Spiegeln geglitten, „hinter denen man das Nichts weiss“, behauptet der Erzähler (ibid.).
Hier vollzieht sich nun eine erstaunliche Substitution: die Lüge tritt an die Stelle der Liebe. Sie hatte ja ihre Liebe zu ihrem Mann dem Ministerialrat gegenüber verleugnet. Die Lüge wird nun aufgewertet, der Text spricht vom „wundervolle(n), gefahrvolle(n) steigernden) Wesen der Lüge und des Betrugs in der Liebe“ (ibid.). Die Lüge „tritt aus sich heraus“. Sie hat eine Notwendigkeit, aber diese besteht nicht in der Täuschung. Sie tritt eher an jene Stelle, wo die Protagonistin, für den anderen, ihren geliebten Mann, nicht mehr erreichbar ist, sie ersetzt das, was sie für ihn gemieden hat; sie löst das Alleinsein auf. Sie steht im Dienste der Wahrhaftigkeit: sie tritt „um der grossen Wahrhaftigkeit willen in die Leere, die zuweilen einen Augenblick lang, sich hinter den Idealen auftut“ (90–91). Offensichtlich macht Musil hier aus der Liebeslüge eine Metapher des Schreibens.
Claudine fühlt mit Gleichgültigkeit die Gegenwart eines Menschen hinter ihrer Tür, bis sie die Lust packt, aber diese Lust ist nicht Sinnlichkeit. Sie hört den Menschen weggehen und begreift, dass ihre Untreue stärker ist als die Lüge. In ihrem Phantasma nimmt sie das „Unbegreifliche“ vorweg, dass ihre Untreue schon verwirklicht ist (93), unterwirft sich dem „Fremden“, der an ihrer Tür lauscht. Im Gedanken, es tun zu müssen, entriegelt sie die Tür: Er ist weggegangen. Sie schließt alles Fremde von sich aus in einer träumenden Vollendung einer großen Liebe (98).
Nicht ganz, nicht alles
Am nächsten Tag gibt sie dem Drängen des Ministerialrats nach. Sie ist gefühllos, hat nur das Bewusstsein, etwas Unrechtes zu tun. Er will sie damit gewinnen, indem er von sich behauptet, „ein ganzer Mensch“ zu sein, und sie fragt ihn, was das denn sei, ein ganzer Mensch (102). Für sie gibt es nur Teilobjekte, welche ihr Begehren verursachen: Augen, Zunge, nicht die Worte, sondern deren Klang, die Stimme (102).
Sie sagt ihm, dass sie nicht ihn liebe, sondern nur den Zufall, bei ihm zu sein. Dann überschreitet sie die Grenze, gibt sich ihm hin, es ekelt sie. Doch mit Schaudern fühlt sie Wollust (104) und denkt an das, was sie schon früher erlebt hatte: „dieses wie für alle da sein können und doch nur für einen“.
Hartmut Böhmes Lektüre
In seinem Essay „‚Erinnerungszeichen an unverständliche Gefühle‘“15 präsentiert Hartmut Böhme Musils poetologische und kusttheoretische Aussagen zu den Vereinigungen und kommentiert die beiden Novellen.
Mit der Novelle „Die Vollendung der Liebe“ wiederhole Musil den aristophanischen Vereinigungsmythos aus Platons Symposium, um die „verfluchte Zerschnittenheit der Geschlechter“ durch Poesie aufzuheben. Das Motiv der Untreue in dieser Novelle findet eine tiefe Deutung: „Die Untreue ist kein novellistischer ‚Seitensprung‘, sondern der ontologischen Kluft der Geschlechter geschuldet“. Musil selbst spricht ja von der Untreue als einer „früheren Form ihres (der Geschlechter) ewigen Zwischenihnenseins“ (54). Nur die poetische Sprache Musils habe das Auseinanderschneiden des mythischen (androgynen) „Kugelmenschen“ durch Zeus in den modernen Figuren Claudines und ihres Erzählers, der mit ihr verschmilzt, überwunden.
Mit der Veronika-Novelle sei Musil von der „vera ikon“ des Schweißtuchs der Veronika, ausgegangen, in welchem Leinen sich ja, laut der „christlichen Bildtheologie“, das Gesicht des wahren Christus abgedrückt hat. Das Tuch mit dem Abdruck wurde Modell der Vereinigung von Signifikant und Signifikat, ja sogar jener von Abbildung und Abgebildeten, bei der nichts verloren gehe. So kann dieses Tuch auch als ein Ideal einer Sprache aufgefasst werden, in der das Zeichen zugleich seine Bedeutung ist (212), also keine Differenz zwischen diesen beiden Teilen besteht. Auf ihre Vereinigung nach ihrer „traumatischen Zerreissung“ bei Platon (ibid.) spiele Musil in der Veronikanovelle an, wo ja das Schweißtuch explizit vorkommt. Musil habe eine Äquivalenz seiner poetischen Sprache und der stillen Veronika selbst gesucht, „die in ihrer unteilbaren Selbstbezüglichkeit zum ‚wahren Bild‘ der Poesie“ werde.16
Hartmut Böhmes ausgezeichnete Analysen haben nur eine Schwäche. Sie lassen alle Möglichkeiten offen. So schreibt er am Schluss: „Ein wenig sind diese Novellen Mythos und Bildreliquie, und erzählen zugleich, dass beides nur Mythos und Imagination sein kann“ (220).
Hartmut Böhme begnügt sich natürlich nicht damit, festzustellen , dass beide Novellen „Frauen zum Mittelpunkt“ haben, er schreibt auch: „Untergründiges Ziel des Erzählers nämlich ist das Eindringen ins Weibliche, sodass dieses sich von innen her erschliesst und jene Fremdheit, die zwischen den Geschlechtern und mithin auch zwischen dem Erzähler und seinen Protagonistinnen herrscht, getilgt wird – um im Erzählen selbst jene Vereinigung zu erlangen, welche auf der erzählten Ebene das Begehren der Figuren ist“ (200–201). Was der Fremde (der Ministerialrat) bei Claudine verfehlt, da er die Frau in seinem Inneren nicht fühlen kann, stellt auch eine Herausforderung für den Erzähler dar: „dass seine Sprache nicht ins Innere des Selbsterlebens der Frau reichen könnte“ (206). Hartmut Böhme hält den Erzähler zwar für fähig, dies zu erreichen, interessiert sich aber nicht genug für das Ergebnis dieses Sich-in-die Frau-Versetzens des Erzählers. Daher will ich dessen Entdeckungen hier skizzieren.
Lacan mit Musil
In ihrem Buch über Robert Musils großen Roman beklagt Inka Mülder-Bach dessen „Mangel an Resonanz“:
Wie aus Zufall fehlt Lacan in der Liste dieser Autoren. Er hatte wohl Musils Hauptwerk gelesen, es gab ein abgenutztes Exemplar des Originals in der Bibliothek seiner Ordination. Als er in den 1950er Jahren begann, die Hieroglyphen der weiblichen Sexualität zu entziffern, hatte Ulrichs und Agathes Geschwisterliebe sein Wissen über die Beziehung von Mann und Frau da bereichert? Die Liebe zwischen den Zwillingen findet ihre „Präludien“ in der Novelle „Die Vollendung der Liebe“, behauptet Hartmut Böhme. Hat Musil in den beiden Novellen seines Bandes Vereinigung (1911) sich so in das Denken und Fühlen einer Frau versetzen können, dass er schon Einsichten in jene Logik gewinnen konnte, welche Lacan sechzig Jahre später schuf, um zu zeigen, dass Weiblichkeit und Männlichkeit in kein schriftlich fassbares Verhältnis treten?18 Jedenfalls wagte Musil sich früher als Freuds Schüler an das „Rätsel der Weiblichkeit“19 und schuf in seiner Novelle „Die Vollendung der Liebe“ sogar die Topographie der fremden, unbekannten Landschaft im Leben einer Frau, seiner Heldin Claudine. Die Reise, die der Erzähler mit Claudine dorthin unternimmt, eröffnete ihm auch den Weg zu seinem großen, unvollendeten Roman.
Den Kommentatoren der Vereinigungen sind Musils Interesse für, und seine Einsichten in die Logik der Weiblichkeit natürlich nicht entgangen. Dennoch schüttet Hartmut Böhme Musils Durchbruch zu diesem vom Standpunkt des Mannes radikal Anderen wieder zu, indem er die erstaunliche Leistung des Erzählers der Novelle „Die vollendete Liebe“, sich in die weibliche Seele hinein zu versetzen, als Wiederherstellung der platonischen Androgynie erklärt, um diese Restitution dann wieder zurückzunehmen. Es gibt in der Literatur- und Geistesgeschichte mehrere Autoren – oft Mystiker –, welche von Frauen, ihrem Denken und Fühlen, mehr verstanden als viele Frauen selbst. Musil und Lacan waren solche Autoren. Haben sie deshalb die Verschmelzung mit der Weiblichkeit angestrebt? Es ist schade, dass Freud die Vereinigungen nicht gelesen hat; dass einiges von Musils Wissen über die Liebesbeziehung von Agathe und Ulrich zu Lacan gedrungen ist, halte ich nicht für ausgeschlossen.
Logik der Liebe
Musils literarisches Programm ist Lacans Orientierung der Psychoanalyse an der Wissenschaft vergleichbar. Nach Musil war ein Logiker wie Giuseppe Peano für die Literatur wichtiger als Goethe. Literatur sollte wie die Wissenschaft seiner Zeit vorgehen, ohne sich für Wissenschaft zu halten. Lacan orientierte sich an Freges Logik und erklärte, dass das Subjekt der Psychoanalyse auch das Subjekt der Wissenschaft sei.
Vor Lacan und vor Gödel hatte Musil große Zweifel an der Fundierbarkeit der Zahl Zwei. Zweisamkeit wird immer gestört und zwar aus tieferen Gründen als denen des Phantasmas oder der Untreue. In „Die Vollendung der Liebe“ wird uns zuerst in Claudine und ihrem Mann ein Paar vorgestellt, deren Liebe diese beiden Menschen solide zusammenhält „wie eine Strebe aus härtestem Metall“. Dieser Einheit im Physischen entspricht die Leichtigkeit ihrer Vermengung. Ihre Herzen flattern wie „zwei Schwärme kleiner Schmetterlinge“ ineinander, sagt der Erzähler (8). Aber schon eine Seite weiter taucht der Perverse im Gespräch der Geliebten auf, ein „zufälliger Mensch“ (11), ein „Unbekannter“, „einer von den vielen Dritten“ (12), hinter dem sich für Claudine dennoch „etwas Bestimmtes“ abzeichnet (11). Er verstört das Paar, „ritzt“ wie der Flug eines Vogels seine „taumelnde Linie“ in die große Kugel der Atmosphäre und konfrontiert jeden von ihnen mit seinem „Alleinsein“. Und unmittelbar bevor Claudine ihrem Mann gesteht, „dass da etwas zwischen uns war“, als er sie vor einigen Abenden küsste, heißt es im Text: „Sie waren manchmal unglücklich, weil sie nicht alles bis ins Letzte einander gemeinsam machen konnten“20. Der Dritte taucht dann aus Claudines Vergangenheit auf. Sie war schon einmal verheiratet, aber der Vater ihrer Tochter war ein während dieser Ehe zufällig getroffener amerikanischer Zahnarzt. Schließlich trifft sie im Zug den Fremden, den Ministerialrat.
Der Dritte ist also eine sowohl kontingente, gesichtslose Figur, ein Unbekannter, als auch „etwas Bestimmtes“, ein Schatten, oder eine massive Fremdheit.
Der Eine
Der Mann, dem ihre große Liebe gilt, eine Liebe, die schon früh von einer Sehnsucht Claudines bedroht wird, sie zu verlassen (29), wird als ihr einziger Geliebter genannt. Sie lieben einander schon bevor sie sich kennen (54). Sie wählte ihn also, er hat keinen Rivalen und im Unterschied zum Dritten, ist er der Eine. Im Unterschied zu den vielen Dritten verdankt er seine Existenz keinem Zufall. Er ist „der einzige Mensch“, ebenso einsam wie sie.
Der geliebte Mann steht also dem Dritten kontradiktorisch gegenüber. Er ist der Einzige, zumindest ein Einziger. Mit Lacan könnte man auch sagen: mindestens er ist Einer, au moins un, der mit einem Wortspiel Lacans zu l’hommoinzin wird.21 Er, mindestens, steht dem Allmenschen (touthomme) gegenüber, einer Funktion, auf Grund deren es auch die vielen Dritten bei Musil gibt.
Dass der Geliebte in der Funktion des „Mindestens Einen“ dem Vielfachen Dritten widerspricht, ist nicht schwer zu verstehen. Claudine liebt ihren Mann wie keinen anderen, für sie ist er Anders als diese, ein Einziger. Trotzdem glaubt sie nicht an die Gesetzesmacht seiner Ausnahme. Sie sagt: ‚Es gibt einen, der nicht so ist, wie alle anderen.‘ Aber auch: ‚Seine Einzigkeit bindet mich nicht an ihn.‘ Selbst auf die Gefahr hin, ihn zu verlieren, will sie also in einem freieren Raum als dem des Vatergesetzes mit ihrem Geliebten zusammen sein. Sie sagt ‚Nein‘ zur Kastration. Das wäre „vollendete Liebe“. Nicht ohne Überraschung liest man in Musils Text Ablehnungen des Ganzen und der Logik der Allsätze. Beispielsweise S. 14, wo es heißt, dass Claudine und ihr Mann „nicht alles bis ins Letzte einander gemeinsam machen konnten“. Auch mokiert sich Claudine über die Idee des Ministerialrats, dass es den ganzen Menschen gebe. Die Novelle schließt sogar mit dem folgenden Dementi eines Allsatzes über die Liebe: Nachdem Claudine ihrem Mann untreu wurde, dachte sie „an dieses für alle da sein können und doch nur für einen“. Ihr „Für alle da sein und doch nur für einen“ formuliert nicht die Beziehung zwischen einer All-Aussage und ihrer Ausnahme. Im Gegenteil, sie sagt einen Widerspruch: wenn Claudine doch nur für einen da sein will, dann kann sie nicht für alle da sein. Denn dieser Eine ist nicht die glückliche Ausnahme. So darf man sagen, dass Musil schon etwas von der Logik des Nicht-Alles (pas tout) geahnt hat, mit welcher Lacan die weibliche Sexualität untersucht.
Reise ins Unkennbare
Claudine reist nicht nur nach der kleinen Stadt, sondern auch zu „etwas Unaufgefunden(em)“ (19), einer „verborgenen Wesenheit ihres Lebens“ und zwar auch auf dem Umweg über ihre Vergangenheit. Sie kommt aus der ihr vertrauen Stadt, wo sie aber auch gefangen war, und fährt ins „Unkennbare“22. Ab einem „sonderbaren Pfahl“ am Rand ihres Weges kommt sie zu einem „nie betretene(n) Pfad“ (26), wo sie zuerst mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird. Der „sonderbare Pfahl“ könnte die Grenze markieren, jenseits derer das Gesetz des Symbolischen nicht mehr gilt und über die das Gebiet des phallischen Genießens nicht hinausreicht. Die Vergangenheit holt sie ein in Form eines „nicht gewordene(n) Gedanke(ns)“, und er lähmt sie. Ihr Weg führt von ihrem Geliebten fort in eine „schmerzhafte Weite“. Ihre Liebe „ist nicht mehr etwas zwischen ihnen allein“ (29). Ihre Liebe scheint sich zu verselbständigen. Sie ist nicht mehr zwischen ihnen allein, aber das bewahrt sie beide nicht davor, jeder für sich, allein zu sein, zu vereinsamen. Der Erzähler berichtet nichts von der Einsamkeit ihres Mannes, wohl aber von der ihren. Sie begegnet jeweils einem der Dritten. Diese sind weder der Eine, den sie erwählte, noch können sie zu allen werden. Weder mit ihnen noch mit ihm kann es die mystische Vereinigung geben. Immer weiter entfernt sie sich von der Stadt, in der sie daheim war, bis sie an jenem von der Welt abgetrennten Ort ankommt, an dem sie eingeschneit werden wird. Die Postverbindung bricht ab, sie zerreißt den Brief an ihren Mann und bricht mit dem gewöhnlichen Menschen ihre Treue zu ihm.
Das Weite, das Draußen, die ungeheure Fremde, das Unkenntliche, die Leere, die ungewollte Wirklichkeit, „das, was unter dem Bereich der Worte liegt“, „weit über alles Wohnland der Seele hinaus“, die „grenzenlose Öde“, die „blinde Riesenhaftigkeit eines leeren Raumes“, das sind einige Namen dieser realen Erde (Lituraterre), auf der sie, wie manche der großen Figuren der Literatur von Shakespeare bis Beckett, irrt.
Urheberrecht (Copyright) für diesen Artikel bei Franz Kaltenbeck.
Anmerkungen
- Robert Musil, Tagebücher, Reinbek bei Hamburg, 1976, Rowohlt, S. 347.
- Hartmut Böhme, „Erinnerungszeichen an unverständliche Gefühle“, Essay, erschienen in: Robert Musil, Vereinigungen, Frankfurt, 1990, Suhrkamp, S. 191 (im Internet hier). Ich zitiere diese Ausgabe der Vereinigungen mit ihren Seitenanzahlen im Text dieses Aufsatzes. Im Internet findet man beide Erzählungen hier.
- Ibid., S. 189. Hartmut Böhme erläutert in seinem Essay mehrere Aussagen Musils zu den Vereinigungen.
- „Ich hatte den Weg zu beschreiben, der von einer innigsten Zuneigung beinahe bloss binnen 24 Stunden zur Untreue führt“ (Robert Musil, Gesammelte Werke. Band II, herausgegeben von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1978, S. 972).
- Der Autor entschied sich dafür, „den maximal belasteten Weg zu wählen, den Weg der kleinsten Schritte, den Weg des allmählichsten, unmerklichsten Überganges“ (ibid.).
- Dem Verhallen der von ihnen losgemachten Dinge.
- Jacques Lacan, Écrits, Paris, 1966, Le Seuil, S. 552, Übersetzung FK.
- Jean Genet spricht in einem seiner Texte ebenfalls von einem ganz beliebigen Mann, dem er in einem Zug gegenübersaß und dessen Seele in seine eigene Seele eindrang. Edmund White, sein Biograph beschreibt diese Begegnung in einem Interview von 1993 anlässlich des Erscheinens seiner Biographie:
„Un jour, dans un train, en compagnie d’un voyageur, il a eu l’impression que l’âme de ce voyageur entrait dans son corps à lui, tandis que son âme passait dans le corps de l’autre. D’un seul coup, il a compris qu’il n’était pas singulier, que tous les êtres humains sont pareils, et cette expérience l’a horrifié.“ (Siehe hier.) - Das wäre ein ausgezeichneter Ausdruck für das „Reale“ Lacans!
- Vgl. S. Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“, in: Ders., Studienausgabe, Band IX, Frankfurt am Main, 2000, Fischer Taschenbuch Verlag, S. 229–230.
- Lacan führt die „Abwesenheit der Frau von sich selbst“ auf ihr Genießen zurück, das sich keinem All-Satz unterwerfen lässt, es ist ein „nicht ganzes Genießen“ (jouissance pas toute). Die Frau selbst ist „nicht ganz“, es gibt die Frau nicht, es gibt keine All-Frau. Siehe: J. Lacan: Le séminaire, livre XX. Encore. 1972–1973, Textherstellung von Jacques-Alain Miller, Paris, 1975, Le Seuil, Sitzung vom 9. Januar 1973, S. 36; Übersetzung von Norbert Haas u.a., Weinheim u.a., 1986, Quadriga, S. 40.
- „Die Frau hat nichts mit dem Gesetz zu tun“, Jacques Lacan, Le séminaire, livre XVIII. D’un discours qui ne serait pas du semblant. 1971, Textherstellung von Jacques-Alain Miller, Paris, 2007, Le Seuil, Sitzung vom 17. März 1971, S. 107, Übersetzung FK.
- Dieses Bild der beiden fremden Punkte, die einander ansehen, steht dem auf den ersten Seiten der Novelle beschriebenen fast mechanischen System, das Claudine mit ihrem geliebten Mann verbindet, diametral gegenüber.
- In seinem Seminar von Caracas, 1980, deutet Lacan die Tatsache, dass manche Künstler Tierdarstellungen in eine Liebesszene einfügen, als Sehnsucht der Menschen nach sexuellem Frieden, den er im Tierreich vermutet, weil Tiere nicht über die Zahlen verfügen. So sagte er in Caracas (unveröffentlichtes, aber von Patrick Valas hier ins Internet gehängte Seminar von 1980):
„Mais qui sait que faire d’un corps de parlêtre ? – hormis le serrer de plus ou moins près ?
Qu’est-ce que l’Autre trouve à dire, et encore quand il veut bien ? Il dit: „Serre moi fort“.
Bête comme chou pour la copulation.
N’importe qui sait y faire mieux. Je dis n’importe qui – une grenouille par exemple.
Il y a une peinture qui me trotte dans la tête depuis longtemps. J’ai retrouvé le nom propre de son auteur, non sans les difficultés propres à mon âge. Elle est de Bramantino.
Eh bien, cette peinture est bien faite pour témoigner de la nostalgie qu’une femme ne soit pas une grenouille, qui est mise là sur le dos, au premier plan du tableau.“ - In Vereinigungen, op cit., S. 185 bis 221.
- Der zweiten Novelle in den Vereinigungen, „Die Versuchung der stillen Veronika“, widme ich einen Teil meines Aufsatzes „Über zwei Frauen im Werk Robert Musils“, in: Y. Revue für Psychoanalyse, 2016, im Erscheinen.
- Inka Mülder-Bach, Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman, München, 2013, Carl Hanser, S. 12.
- Karl Corino, Musils Biograph, stellt schon in seiner 1974 erschienen Studie Robert Musils „Vereinigungen“ fest, dass in Musils Novellenwerk das Reale – er nennt es „Wirklichkeit“ – Voraussetzung der Möglichkeiten ist (München, Salzburg, Wilhelm Fink, S. 37). Das Reale ist hier aber das des Geschlechts-Unterschiedes und der Nicht-Beziehung zwischen den Geschlechtern.
- Sigmund Freud, „Die Weiblichkeit“, in: Ders., Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Und Neue Folge, in: Ders., Studienausgabe, Band I, Frankfurt am Main, 1969, Fischer Taschenbuch Verlag, S. 545.
- Meine Unterstreichung, FK.
- J. Lacan, D’un discours qui ne serait pas du semblant, Sitzung vom 19. Mai 1971, a.a.O., S. 144.
- An einer berühmten Stelle der Traumdeutung verwendet Freud den Begriff des „Unerkannten“: „Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt.“ (Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Bd. II/III, Frankfurt am Main, 1961, S. Fischer, S. 530)